Kybernetik definieren – oder wer hat Angst vor Definitionen? (Teil1: definieren)


Gemeinhin wird entgegen jeder statistisch erfassbaren Erfahrung unterstellt, dass Fachleute definieren, worüber sie sprechen. Auf der Website der AMERICAN SOCIETY FOR CYBERNETICS lautet der erste Link zur Sache „Defining ‚Cybernetics'“. Auf dieser Seite lese ich dann aber ohne Überraschung bei den meisten herbeizitierten Autoren, dass man Kybernetik nicht definieren könne.

Ich will diese vulgäre Vorstellung etwas auseinandernehmen. Sie beruht auf einer Sprachlosigkeit, die vor allem darin besteht, die eigene Sprache nicht zu reflektieren.

Zuerst beobachte ich die Aussage „dass man Kybernetik nicht definieren könne“ durch die Unterscheidung zwischen MAN und ICH. Ich kann Kybernetik – unabhängig davon, was man kann und unabhängig davon, was Kybernetik wirklich ist – nicht so definieren, dass meine Definition für (alle) andere(n) Menschen in irgendeinem Sinne verbindlich sein müsste. Ich kann dagegen sehr genau darüber sprechen, wie ich den Ausdruck „Kybernetik“ verwende. Dabei mache ich mich aber zum Subjekt. Das heisst, ich zeige, dass ich meiner eigenen Definition oft nicht folge, also widersprüchlich bin. Darin erkenne ich den Weg des dialogischen Lernens, in meinen Widersprüchen erkenne ich mein noch nicht entwickeltes Denken. Natürlich setze ich mich damit der Kritik durch andere aus. Wenn ich Kritik und Dialog vermeiden wollte, würde ich sagen, dass MAN – egal was – nicht definieren kann.

Dann beobachte ich die Aussage „dass man Kybernetik nicht definieren könne“ durch die Differenz im Begriff Definition, die sich daraus ergibt, dass ich mit Definitionen Wortverwendungen vereinbare und zugleich Referenzobjekte der Wörter, also Sachen sortiere. Als Definitionen definiere ich nämlich Beschreibungen, die einen – inhaltlich gebundenen – Oberbegriff  und ein Kriterium einführen, um Gegenstände durch (Unter)-Begriffe zu klassifizieren (Genus proximum et differentia specifica). Ich definiere beispielsweise „Maschine“, in dem ich sage: Maschinen sind Werkzeuge (Oberbegriff), die durch nicht lebende Energie-Lieferanten angetrieben werden (Kriterium), das heisst, alle Maschinen sind Werkzeuge, aber nicht alle Werkzeuge sind Maschinen, sondern nur jene, die ein bestimmtes Kriterium erfüllen. Und selbstbezüglich definiere ich Definitionen als Beschreibungen (= Oberbegriff), die einen Oberbegriff und ein Kriterium einführen (= Kriterium).

Auf der differenziellen Seite der Vereinbarung des Ausdruckes verwende ich die Definition als Umschreibung für einen Begriff, das heisst, ich vereinbare den Ausdruck, den ich als Er-Satz für eine Definition verwende. Der Ausdruck „Maschine“ steht dann anstelle eines Satzes, mit welchem ich dasselbe meine. Sinn der Definition ist aber nicht nur die Vereinbarung eines Ausdruckes oder die Erläuterung dessen Verwendung, sondern gleichzeitig die pragmatische Klassifizierung von Gegenständen. Wenn es mir nur um die Verwendung von Wörtern geht, kann ich dies auch jenseits von Definitionen vereinbaren. Ich kann beispielsweise auf einen Tisch zeigen und Tisch sagen, wobei ich unglaublich viel impliziere, aber trotzdem erfolgreich sein kann, wenn andere Menschen meine Implikationen wie auch immer teilen.

Durch meine Definition der Maschine sortiere ich die Gegenstände, die ich als Werkzeuge bezeichne. Einige Werkzeuge nenne ich Maschinen, weil sie bestimmte Kriterien erfüllen, die ich in meiner Definition als Bestimmung und Abgrenzung verwende. Danach kann ich umgekehrt sagen, dass eine Maschine ein Werkzeug ist, das bestimmte Bedingungen erfüllt. Ich definiere, um  Gegenstände zu klassifizieren, und verwende nachher die Definition, um die vereinbarte Klassenbezeichnung (etwa „Maschine“) zu erläutern.

Natürlich macht diese Definition nur Sinn, wenn ich weiss, was ein Werkzeug ist. Sortieren oder klassifizieren ist kein sprachlicher Akt, sondern eine pragmatische Handlung, durch welche ich Gegenstände quasi in die eine oder in die andere Schublade lege, also Mengen bilde. Meine Definitionen sind Aussagen darüber, wie das mache. Indem ich Definitionen mache, mache ich mir mein Sortieren bewusst und eben auch, wo ich mit meinem Sortieren anstehe, weil die Kategorien nicht zu meinen Handlungen passen.

Gegen diese Definition des Definierens gibt es zwei vulgäre Einwände. Der eine Einwand lautet, dass das Verfahren rekursiv sei und deshalb am jeweiligen Anfang – also am letzten Oberbegriff – scheitern müsse. L. Wittgenstein etwa hat im blauen Buch so argumentiert. Der andere Einwand sagt, dass solche Definitionen nur in Bezug auf sortierbare Gegenstände, also auf Dinge, die in Schubladen passen, anwendbar seien. Man könne sagen, dass Tiger Katzen und Häuser Gebäude seien, weil man Tiger und Häuser anfassen und mithin als Gegenstände genau abgrenzen könne. Beide Einwände sind formal, tun so, als ob Sprache und mithin Aussagen oder Beschreibungen jenseits einer materiellen Paxis denkbar wäre. Wenn ich etwas beschreibe oder definiere, beziehe ich mich aber auf eine Praxis, ohne deren Widerspiegelung meine Beschreibung sinnlos wären. Wenn ich über Technik oder über Kybernetik spreche, dann in der Gewissheit, was ich mit einem Hammer oder einem Computer mache, sozusagen als toolmaking animal, das seine Sprache erst entwickelt.

Ich kann sagen, worauf –  auf welche Praxis – ich mich mit dem Ausdruck „Kybernetik“ beziehe, ob ich damit „Kybernetik“ definiere oder nicht, ist mir egal. Wenn ich sagen müsste, dass mir selbst unklar ist, was ich als Kybernetik bezeichne, dann würde ich das Wort so markieren oder gar nicht verwenden.
Was ich als Kybernetik bezeichne, schreibe ich im nächsten Beitrag.

13 Antworten zu “Kybernetik definieren – oder wer hat Angst vor Definitionen? (Teil1: definieren)

  1. „Auf dieser Seite lese ich dann aber ohne Überraschung bei den meisten herbeizitierten Autoren, dass man Kybernetik nicht definieren könne.“

    Ich war durchaus etwas überrascht, weil ich im Gegenteil von den meisten herbeizitierten Autoren Definitionen lese. Dass man Kybernetik nicht definieren könne sagt dagegen nur eine kleine Minderheit.

    • hmmmm .. einverstanden, der Leser bestimmt, was er liest – und ist dann in den Augen anderer Leser oft ein schlechter Leser, weil sie anderes lesen.
      Ich mag eben ein schlechter Leser sein, aber ich finde in all den Beiträgen keine Bemühung um eine begriffliche Eingrenzung. Mir scheint viel mehr der Fall, was Schlom (unten) suggeriert. Es sind paradoxe Formulierungen, obwohl die meisten älter sind, als JENE „zweite Ordnung“, die Kybernetik jeder Definition entziehen will.
      Und natürlich interessiert mich jede „Definition“ (Definition hin oder her), die mir brauchbare begriffliche Bestimmungen zur Kybernetik bringt – insbesondere Deine 😉

    • Ja, ich lese auch lauter verschiedene Definitionen. Jeder hat da seine ganz individuelle. Aber eben nicht eine einzige, der alle zustimmen würden. Insofern kann wie oben richtig beschrieben sich jeder seine eigene Definition zulegen und macht das zwangsläufig auch. Nur sind das eben keine ‚endgültigen‘ Definitionen, sondern zeigen eine enorme Heterogenität. Ich denke, dass dies die Stärke der Kybernetik ist. Diese Offenheit durch die Ablehnung von Definitionen.

      • ahhhh … differenziell verstehe ich das Definieren als Beschreiben, wie ICH ein Wort verwende. Das ist dann tautologischerweise „individuell“. Und dazu kann es aber auch kaum Widerspruch (ausser von mir selbst) geben: ich verwende dabei eine ich-Formulierung und lassen jeden anderen gerne sagen, wie er das Wort verwendet.
        Das finde ich eine Offenheit im Dialog, die nichts mit Kybernetik zu tun hat (ich meine nichts mit dem, was ich als Kybernetik bezeichne). Die Offenheit, die ich meine, lässt ganz viele Definitionen zu, aber eigentlich nicht, dass sich jemand darum herumdrückt, zu sagen, was er meint – davon abgesehen, dass jenseits von Machtverhältnissen kein Mensch sprechen muss.

  2. Der Satz ist nicht so schlecht, wie es scheint, finde ich. Das „man“ in dem Satz „Man kann Kybernetik nicht definieren“ widerspricht der Grundannahme von Kybernetik, bzw. Kybernetik zweiter Ordnung, dass es Objektivität nicht gibt. Der Satz ist paradox. Einserseits scheint er richtigerweise zu sagen, dass eine ‚Definition‘ nicht möglich ist, andererseits objektiviert er diese Aussage durch das ‚man‘ wieder. Insofern reflektiert er gleich zu Anfang eine Kernaussage der Kybernetik. Das weiß ‚man‘ aber erst, wenn ‚man‘ weiß, was Kybernetik ‚ist‘ 🙂 Insofern ist der Satz eine Definition, ohne eine Definition zu sein.

    • „Die Grundannahme der Kybernetik“ … hmmm … mir scheint gerade, dass hier eine Annahme von epistemologisch motivierten Konstruktivisten als Grundannahme der Kybernetik bezeichnet wird. Ich vermute, dass nicht sehr viele Menschen die Kybernetik nur als Kybernetik zweiter Ordnung sehen. L. von Bertalanffy beispielsweise hat die Kybernetik immer abgelehnt, weil sie mechanisch sei und nichts zum Verständnis von Leben beitragen könne (wie die offenen Systeme seiner Lehre). Ich lese ihn durchwegs so, dass er Objektivität zu Grunde legt, während die involvierten Mathematiker zur Objektivität logischerweise gar kein Verhältnis haben.
      Und zur Sache selbst: Es wäre allenfalls eine NEGATIVE Definition, aber nicht eine zur Kybernetik, sondern eine, die EINE Kybernetik voraussetzt – die jetzt aber erst noch zu klären (definieren) wäre (erst wenn man weiss …)
      Vielleicht weisst Du für mich, wie ich zu diesem Wissen kommen könnte ?

  3. OK. Das hier wird ein bisschen länger. Ich schreibe mal ein bisschen eingedampft, ‚what I have learned so far‘. Kybernetik ist ein sehr alter Begriff, den zuletzt, also vor der Benutzung durch Norbert Wiener, im neunzehnten Jahrhundert von Ampère benutzt wurde. Dann schrieb Wiener seine Theorie des Feedbacks und nannte das dann seinerseits Kybernetik. Dabei könnte man es schon belassen, und man könnte einfach über Wieners Buch reflektieren und sagen, da steht doch, was das ist. Aber das stand bei Ampère auch schon, nur anders. Interessant wird es ja erst, welche unglaubliche Karriere dieser Begriff danach machte. Auf einer wissenschaftlichen Konferenz zum Thema „Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems“ schlug Heinz von Foerster vor, dass man doch einfach ‚Cybernetics‘ sagen solle, anstatt dieses Wortungetüm zum Titel der Konferenz zu machen. Norbert Wiener soll sehr gerührt gewesen sein, als alle zustimmten. Genau hier beginnt für mich pesönlich Kybernetik, nämlich in der interdiziplinären und undogmatischen Forschung zu immens vielen Themen, sowohl naturwissenschaftlich als auch geisteswissenschaftlich, im Hinblick auf Feedbacksysteme und Selbstbezüglichkeit. Ich denke, das daher ‚Kybernetik‘ viel mehr eine Art und Weise ist, sich bestimmten Aufgabenstellungen zu nähern, als eine Theorie zu diesem oder jenem. Es ist ein Programm, eine Metatheorie, auf die hin man alles andere untersuchen kann, was zu erstaunlichen Ergebnissen führt. Deswegen ist für mich ‚Systhemtheorie‘ oder ‚Konstruktivismus‘ oder ‚Kybernetik‘ ein und das selbe. Ich mag nur die ersten beiden Begriffre nicht, weil sie so tun, als seien sie etwas anderes, oder spezielles. Dabei gibt es dieses schöne Wort doch schon. Da sich Kybernetik (unter anderem auch) mit Feedback in lebenden Organismen beschäftigt ist es nur folgerichtig, die Kybernetik auch auf den eigenen kognitiven Apparat anzuwenden. Das wird dann Kybernetik ‚zweiter Ordnung’ genannt, was vielleicht nützlich ist, wenn man genau auf diesen Anwendungsfall der Kybernetik hinweisen möchte, aber blöd, wenn dann jemand kommt und sagt, ‚Das ist aber keine Kybernetik’.
    Kybernetik ist universell und es ist folgerichtig aus den Konsequenzen dieses Konzeptes eine Epistemologie zu entwickeln. Nichts anderes ist Kybernetik. Es ist ein Epistem.
    Wenn man wissen möchte, was die ‚American Society of Cybernetics‘ darunter versteht, um die ging es hier ja, und sechs Stunden Zeit hat, dann kann ich dieses Video empfehlen. Da erklärt Stuart Umpleby, der am BCL bei HvF studiert hat und in den achtzigern die ASC geleitet hat, warum man Kybernetik nicht definieren kann. Aber so ähnlich würde ich das auch sehen und kürzer kann man es nicht erklären. 🙂

    Viele Grüße, Schlomo

  4. …und hinterher ärgert ‚man‘ sich dann, dass es keinen Edit-Button gibt. 😀
    Ich wünsch Euch einen super Tag

  5. Herzlichen Dank für Deine Erläuterung und den Link zu Stuart Umpleby.

    Ich lese (interpretiere) sie als Ausdruck eines anderen Anliegens als ich verfolge. Ich verfolge sozusagen „reduce to the max“, was ich auch mit „Definition“ umschreibe, während ich in Deinem Text das Anliegen eine möglichst grossen Offenheit für möglichst viele Aspekte lese.
    Ich unterscheide deshalb zunächst die – beliebigen – Verwendungen des Ausdruckes von einer jeweils bewussten individuellen Verwendung. Der einzelne Sprecher kann also jederzeit sagen: „Ich verwende den Ausdruck so oder so“ und ich akzeptiere jede Verwendung.
    Dann bleibt mir, über meine Verwendung des Ausdruckes nachzudenken und damit verbunden, welche Welt ich damit zum Ausdruck bringe.
    Dass die alten Griechen und in deren Folge A. Ampére sich Gedanken über das Steuern eines Schiffes und eines Staates machten und dabei von einem Steuermann gesprochen haben, hat für mich nichts mit Kybernetik zu tun, sondern ist Teil von Geschichten, die allerlei zusammenwürfeln. Solche Geschichten blende ich – in meinem engen Begriff – naheliegenderweise vollständig aus, obwohl ich solche Geschichten auch gerne höre und erzähle.

    Ich verwende den Ausdruck Kybernet-ik in analogie zum Ausdruck Techn-ik, wobei ich mit der Endung -ik auf eine relative Indifferenz zwischen Gegenstand und Widerspiegelung, die ich dann durch die

    Wortendungen „-logie“ in Kybernologie aufhebe, weil ich damit spezifisch eine Lehre zur Kybernetik bezeichne.
    Ich bin mir bewusst, dass das meine Sprechweise ist. Die meisten Menschen unterscheiden kaum zwischen Technik und Technologie und die die es tun, sprechen von Technik, wenn sie Technik schlecht finden und von Technologie, wenn sie darüber staunen, was technisch möglich ist.

    Ich mache mir die Technologie und die Kybernologie als Teil davon als Lehre und als Weltanschauung bewusst. Darin bezeichne ich den Aspekt, den Du so beschrieben hast:
    „Ich denke, das daher ‚Kybernetik‘ viel mehr eine Art und Weise ist, sich bestimmten Aufgabenstellungen zu nähern, als eine Theorie zu diesem oder jenem. Es ist ein Programm, eine Metatheorie, auf die hin man alles andere untersuchen kann, was zu erstaunlichen Ergebnissen führt.“
    was mir sehr gefällt – und was ich für mich eben etwas genauer auseinander halten will.

  6. PS: ich habe einen Edit-Button (Bearbeiten) – weiss aber nicht, wie ich den Dir in dieser wordpress-Umgebung auch zugänglich machen kann.

  7. Der Klaus Kusanowsky hat in seinem Glossar auch einen Vorschlag, wie man Ordnung in Begriffe bringen kann:

    Differentia – Glossar


    „Statt also naiv zu glauben, ich könnte so einfach meine Begriffe erklären, komme ich auf die Idee, ob irgendjemand die Bereitschaft mitbringt, meine verworrenen Begriffe zu verwirren und testen, wie ich darauf reagiere.“

  8. 😉 ja beim Klaus mag das SO aussehen. Dass er seine eigenen Begriffe für verworren hält, scheint tautologisch, da er ja – als Troll – verwirren will. Mir dagegen ist völlig unwichtig, ob er seine Begriffe für verworren hält. Ich frage mich nur, was ich mit seinen Definitionen anfangen kann.
    Ich halte meine Begriffe für klar, was mit erklären gerade nichts zu tun hat, sondern mit Sprachverwendung. Und ich freue mich sehr, wenn ich kritische Erwägungen dazu bekommen.
    Und von der von Klaus sehr betonten Hinsicht der A-Symmetrie unter den Sprechenden bin ich völlig frei. Ich spreche über meine Begriffe und jeder andere über seine Begriffe, dabei gibt es keine Lehre, Professoren, Prüfungen und dergleichen. Das braucht nur Klaus, weil er als Troll dagegen ankämpfen will.
    Übrigens hat Nachdenken über die eigene Sprache mit dem Internet nichts zu tun. Ich definiere meine Begriffe schon länger als es das Internet gibt.

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